Die Philosophie
XIII. Das geologische Grundprinzip Goethes
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EG, 184-189
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Goethe wird sehr oft dort gesucht, wo er durchaus nicht zu finden ist. Unter vielen anderen Dingen ist das bei der Beurteilung der geologischen Forschungen des Dichters geschehen. Viel mehr aber als irgendwo wäre es hier notwendig, dass alles, was Goethe über Einzelheiten geschrieben, zurückträte hinter den grossartigen Intentionen, von denen er ausging. Er muss hier vor allem nach seiner eigenen Maxime: »In den Werken des Menschen wie in denen der Natur sind eigentlich die Absichten vorzüglich der Aufmerksamkeit wert« und »Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste« beurteilt werden. Nicht was er erreichte, sondern wie er es anstrebte, ist für uns das Vorbildliche. Es handelt sich nicht um eine Lehrmeinung, sondern um eine mitzuteilende Methode. Die erste hängt von den wissenschaftlichen Mitteln der Zeit ab und kann überholt werden; die letzte ist hervorgegangen aus der grossen Geistesanlage Goethes und hält stand, auch wenn die wissenschaftlichen Werkzeuge sich vervollkommnen und die Erfahrung sich erweitert.
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In die Geologie wurde Goethe durch die Beschäftigung mit den Ilmenauer Bergwerken geführt, zu der er amtlich verpflichtet war. Als Karl August zur Regierung kam, widmete er sich mit grossem Ernste diesem Bergwerke, das lange vernachlässigt worden war. Es sollten zunächst die Gründe des Verfalls desselben durch Sachverständige genau untersucht und dann alles mögliche zur Wiederbelebung des Betriebes getan werden. Goethe stand dabei dem Herzog Karl August zur Seite. Er betrieb die Angelegenheit auf das energischste. Das führte ihn denn oft in die Bergwerke von Ilmenau. Er wollte sich mit dem Stand der Sache selbst genau bekannt machen. Im Mai 1776 zum ersten Male und dann noch oft war er in Ilmenau.
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Mitten in dieser praktischen Sorge ging ihm nun das wissenschaftliche Bedürfnis auf, den Gesetzen jener |185 Erscheinungen näher zu kommen, die er da zu beobachten in der Lage war. Die umfassende Naturanschauung, die sich in seinem Geiste zu immer grösserer Klarheit heraufarbeitete (s. Aufs. »Die Natur« Naturwissenschaftliche Schriften, 2. Band, S. 5 ff.), zwang ihn, das, was sich da vor seinen Augen ausbreitete, in seinem Sinne zu erklären.
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Es macht sich hier gleich eine tief in Goethes Natur liegende Eigentümlichkeit geltend. Er hat ein wesentlich anderes Bedürfnis als viele Forscher. Während bei letzteren das Hauptsächliche in der Erkenntnis des Einzelnen liegt, während sie gewöhnlich an einem ideellen Bau, einem System nur insoweit Interesse nehmen, als es ihnen beim Beobachten des Einzelnen behilflich ist, ist für Goethe die Einzelheit nur Durchgangspunkt zu einer umfassenden Gesamtauffassung des Seienden. Wir lesen in dem Aufsatz »Die Natur«: »Sie lebt in lauter Kindern und die Mutter, wo ist sie?« Dasselbe Streben, nicht nur das unmittelbar Existierende, sondern dessen tiefere Grundlage zu erkennen, finden wir ja auch in Faust (»Schau’ alle Wirkungskraft und Samen«). So wird ihm denn auch das was er auf und unter der Erdoberfläche beobachtet, ein Mittel, in das Rätsel der Weltbildung einzudringen. Was er am 28. Dezember 1786 an die Herzogin Luise schreibt: »Die Naturwerke sind immer wie ein frisch ausgesprochenes Wort Gottes«, beseelt all sein Forschen; und das sinnlich Erfahrbare wird ihm zur Schrift, aus der er jenes Wort der Schöpfung zu lesen hat. In diesem Sinne schreibt er am 22. August 1784 an Frau v. Stein: »Die grosse und schöne Schrift sei immer lesbar und nur dann nicht zu entziffern, wenn die Menschen ihre kleinlichen Vorstellungen und ihre Beschränktheit auf unendliche Wesen übertragen wollen.« Dieselbe Tendenz finden wir im »Wilhelm Meister«: »Wenn ich nun aber eben diese Spalten und Risse als Buchstaben behandelte, sie zu entziffern hätte, sie zu Worten bildete und sie fertig zu lesen lernte, hättest du etwas dagegen?«
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So sehen wir denn den Dichter vom Ende der siebziger Jahre an unablässig bemüht, diese Schrift zu entziffern. Sein |186 Streben ging dahin, sich zu einer solchen Anschauung emporzuarbeiten, dass ihm das, was er getrennt sah, im innern, notwendigen Zusammenhang erscheine. Seine Methode war »die entwickelnde, entfaltende, keineswegs die zusammenstellende, ordnende«. Ihm genügte es nicht, da den Granit, dort den Porphyr usw. zu sehen, und sie einfach nach äusserlichen Merkmalen aneinanderzureihen, er strebte nach einem Gesetze, das aller Gesteinsbildung zugrunde lag und das er sich nur im Geiste vorzuhalten brauchte, um zu verstehen, wie da Granit, dort Porphyr entstehen musste. Er ging von dem Unterscheidenden auf das Gemeinsame zurück. Am 12. Juni 1784 schrieb er an Frau v. Stein: »Der einfache Faden, den ich mir gesponnen habe, führt mich durch alle diese unterirdischen Labyrinthe gar schön durch und gibt eine Uebersicht selbst in der Verwirrung.« Er sucht das gemeinsame Prinzip, das je nach den verschiedenen Umständen, unter denen es zur Geltung kommt, einmal diese, das andere Mal jene Gesteinsart hervorbringt. Nichts in der Erfahrung ist ihm ein Festes, bei dem man stehen bleiben könne; nur das Prinzip, das allem zugrunde liegt, ist ein solches. Er ist daher auch immer bestrebt, die Uebergänge von Gestein zu Gestein zu finden. Aus ihnen ist ja die Absicht, die Entstehungstendenz viel besser zu erkennen, als aus dem in bestimmter Weise ausgebildeten Produkt, wo ja die Natur nur in einseitiger Weise ihr Wesen offenbart, ja gar oft bei »ihren Spezifikationen sich in eine Sackgasse verirrt«.
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Es ist ein Irrtum, wenn man diese Methode Goethes damit widerlegt zu haben glaubt, dass man darauf hinweist, die heutige Geologie kenne ein solches Uebergehen eines Gesteines in ein anderes nicht. Goethe hat ja nie behauptet, dass Granit tatsächlich in etwas anderes übergehe. Was einmal Granit ist, ist fertiges, abgeschlossenes Produkt und hat nicht mehr die innere Triebkraft, aus sich selbst heraus ein anderes zu werden. Was aber Goethe suchte, das fehlt der heutigen Geologie eben, das ist die Idee, das Prinzip, das den Granit konstituiert, bevor er Granit geworden ist, und diese Idee ist dieselbe, die auch allen anderen Bildungen zugrunde liegt. Wenn also Goethe von einem Uebergehen |187 eines Gesteins in ein anderes spricht, so meint er damit nicht ein tatsächliches Umwandeln, sondern eine Entwicklung der objektiven Idee, die sich zu den einzelnen Gebilden ausgestaltet, jetzt diese Form festhält und Granit wird, dann wieder eine andere Möglichkeit aus sich herausbildet und Schiefer wird usw. Nicht eine wüste Metamorphosenlehre, sondern konkreter Idealismus ist Goethes Ansicht auch auf diesem Gebiete. Zur vollen Geltung mit allem, was in ihr liegt, kann aber jenes gesteinsbildende Prinzip nur im ganzen Erdkörper kommen. Daher wird die Bildungsgeschichte des Erdkörpers für Goethe die Hauptsache, und jedes Einzelne hat sich derselben einzureihen. Es kommt ihm darauf an, welche Stelle ein Gestein im Erdganzen einnimmt; das Einzelne interessiert ihn nur mehr als Teil des Ganzen. Es erscheint ihm schliesslich dasjenige mineralogisch-geologische System als das richtige, das die Vorgänge in der Erde nachschafft, das zeigt, warum an dieser Stelle gerade das, an jener das andere entstehen musste. Das Vorkommen wird ihm ausschlaggebend. Er tadelt es daher an Werners Lehre, die er sonst so hoch verehrt, dass sie die Mineralien nicht nach dem Vorkommen, das uns über ihr Entstehen Aufschluss gibt, als vielmehr nach zufälligen äusseren Kennzeichen anordnet. Das vollkommene System macht nicht der Forscher, sondern das hat die Natur selbst gemacht.
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Es ist festzuhalten, dass Goethe in der ganzen Natur ein grosses Reich, eine Harmonie sah. Er behauptet, dass alle natürlichen Dinge von einer Tendenz beseelt sind. Was daher gleicher Art ist, musste für ihn von der gleichen Gesetzmässigkeit bedingt erscheinen. Er konnte nicht zugeben, dass in den geologischen Erscheinungen, die ja nichts weiter sind als anorganische Wesenheiten, andere Triebfedern geltend sind, als in der übrigen anorganischen Natur. Die Ausdehnung der anorganischen Wirkensgesetze auf die Geologie ist Goethes erste geologische Tat. Dieses Prinzip war es, das ihn bei Erklärung der böhmischen Gebirge, das ihn bei Erklärung der am Serapis-Tempel zu Pozzuola beobachteten Erscheinungen leitete. Er suchte dadurch Prinzip in die tote Erdkruste zu bringen, dass er sie als durch |188 jene Gesetze entstanden dachte, die wir immer vor unseren Augen bei physikalischen Erscheinungen wirken sehen. Die geologischen Theorien eines Hutton, Elie de Beaumont waren ihm innerlichst zuwider. Was sollte er mit Erklärungen anfangen, die alle Naturordnung durchbrechen? Es ist banal, wenn man so oft die Phrase hört, Goethes ruhiger Natur habe die Theorie des Hebens und Senkens usw. widersprochen. Nein, sie widersprach seinem Sinne für eine einheitliche Naturanschauung. Er konnte sie dem Naturgemässen nicht einfügen. Und diesem Sinne verdankt er es, dass er frühzeitig (schon 1782) zu einer Ansicht gelangte, zu der sich die Fach-Geologie erst nach Jahrzehnten aufschwang: zur Ansicht, dass die versteinerten Tier- und Pflanzenreste in einem notwendigen Zusammenhange mit dem Gestein stehen, in dem sie gefunden werden. Voltaire hatte von ihnen noch als von Naturspielen gesprochen, weil er keine Ahnung von der Konsequenz in der Naturgesetzlichkeit hatte. Goethe konnte ein Ding an irgendeinem Orte begreiflich nur finden, wenn sich ein einfacher natürlicher Zusammenhang mit der Umgebung des Dinges fand. Es ist auch dasselbe Prinzip, das Goethe auf die fruchtbare Idee von der Eiszeit führte (s. »Geologische Probleme und Versuch ihrer Auflösung«, Naturwissenschaftliche Schriften, 2. Band, S. 308). Er suchte nach einer einfachen, naturgemässen Erklärung des Vorkommens der auf grossen Flächen weit entfernten Granitmassen. Die Erklärung, dass sie bei dem tumultuarischen Aufstand der weit rückwärts im Lande gelegenen Gebirge seien dahin geschleudert worden, musste er ja abweisen, weil sie eine Naturtatsache nicht aus den bestehenden, wirkenden Naturgesetzen, sondern durch eine Ausnahme von denselben, ja ein Verlassen derselben, herleitete. Er nahm an, dass das nördliche Deutschland einst bei grosser Kälte einen tausend Fuss hohen allgemeinen Wasserstand hatte, dass ein grosser Teil von einer Eisfläche bedeckt war, und dass jene Granitblöcke liegen geblieben sind, nachdem das Eis abgeschmolzen. Damit war eine auf bekannte, für uns erfahrbare Gesetze sich stützende, Ansicht gegeben. In dieser Geltendmachung einer allgemeinen Naturgesetzlichkeit ist Goethes |189 Bedeutung für die Geologie zu suchen. Wie er den Kammerberg erklärt, ob er mit seiner Meinung über den Karlsbader Sprudel das Richtige getroffen, ist belanglos. »Es ist hier die Rede nicht von einer durchzusetzenden Meinung, sondern von einer mitzuteilenden Methode, deren sich jeder als eines Werkzeugs nach seiner Art bedienen möge.« (Goethe an Hegel 7. Okt. 1820.) |
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